Wie viele Rennmaschinen genau er inzwischen besitzt, kann er nur schätzen („So über 50.“). Schließlich kommt es ihm auch nicht auf die Menge an. Aber eins kann er sicher sagen: Es sind keine Rennmaschinen von der Stange. Denn ihn interessieren nur ganz besondere Straßen-, Bahn- oder auch Zeitfahrmaschinen, meist nur in kleinen Stückzahlen oder als Einzelexemplar gebaut, handgefertigt, mit eigenwilligen Rahmenkonstruktionen, ausgefuchsten Konstruktionsdetails und besonderer Geschichte. Seit über 20 Jahren sind für den Cloppenburger Wolfgang Hagemann solche Maschinen Objekte seiner Begierde – ihrer faszinierenden Kombination von Technik und Ästhetik wegen.

Was haben Sie als letztes Exemplar erworben?

Hagemann: Ein Rad von Textima aus der ehemaligen DDR, das Wolfgang Lötzsch gefahren hat.

Ich glaube, da haben wir Erklärungsbedarf: Was ist Textima und wer ist Wolfgang Lötzsch?

Textima ist DDR-Sportgeschichte. Dahinter steckt eine Forschungsabteilung des VEB Kombinats Textilmaschinenbau Karl-Marx-Stadt. Die hat von Anfang der 1970er Jahre bis 1990 Zeitfahrmaschinen entwickelt und gebaut, auf denen DDR-Radrennfahrer unglaublich erfolgreich waren. Unter anderem auch Wolfgang Lötzsch, der nach Ansicht vieler Radsportexperten ein Jahrhunderttalent war. Der aber leider nie viele Chancen hatte, sich international zu profilieren, weil er als Querulant galt und deshalb nicht ausreisen durfte.

Und von wem haben Sie das Rad bekommen – nach fast 30 Jahren?

Vom ehemaligen Direktor der Textima-Werke. Der ist auf mich zugekommen und hat mir das Rad angeboten: erstaunlicherweise eine Straßenmaschine, denn Textima steht normalerweise für Zeitfahrmaschinen. Es ist vermutlich ein Schwarzbau, den Mitarbeiter für Lötzsch gebaut hatten.

Wenn ein Mann wie der ehemalige Direktor der Textima-Werke auf Sie zukommt, dann ist anzunehmen, dass Sie in der Sammler-Szene sehr bekannt sind.

Es soll in Deutschland etwa 1500 Sammler geben – wobei man bereits mit zwei bis drei Rädern als Sammler gilt. In der Dimension und Qualität, wie ich die Räder sammle, wird es keine 50 geben. Und Sammler, die Räder auch komplett restaurieren so wie ich, vielleicht zwei Handvoll.

Haben Sie Kontakt untereinander?

Natürlich, sogar weltweit. Wir tauschen uns untereinander aus –manchmal sogar Räder.

„Meine Leidenschaft sind schöne Dinge wie diese Rennmaschinen, die handwerklich perfekt sind bis ins kleinste Detail.”

Ist denn das Restaurieren so wichtig?

Sehr wichtig. Die Räder bekommt man selten im Originalzustand – also so, wie sie zu ihrer Zeit fertiggestellt oder gefahren wurden. Mal fehlen Original-Räder, mal Steuersätze, mal Tretlager, mal Lenker. Oft sind sie vollkommen verbastelt, die Rahmen übergepinselt, Originalteile ausgetauscht, Gabel oder Rahmen angebrochen und vieles andere mehr. Sie alle müssen mehr oder weniger aufgearbeitet, repariert, rekonstruiert, restauriert werden.

Und wenn Sie ein Originalteil nicht mehr bekommen?

Dann muss ich es im Notfall nachbauen.

Das klingt schon nach Maschinenbau und anspruchsvoller Technik.

Ich bin inzwischen besser ausgerüstet als manche Fahrradwerkstatt. Ich schweiße und löte ja auch gebrochene Rahmen zusammen. Die Grundkenntnisse hatte ich bereits von meiner Ausbildung als Heizungsbauer.

Wie finden Sie überhaupt Räder, die Sie interessieren?

Über Internet, Fachmedien oder andere Sammler. Manchmal hören Leute von mir und bieten mir Räder an. Was man dabei braucht, ist vor allem auch das Quäntchen Glück – weil natürlich viele Sammler hinter seltenen Rädern her sind.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ein sehr schönes sogar. An einem Montagmorgen um 11 Uhr lese ich eine eBay-Kleinanzeige: Verkaufe Rennrad, zwar älter, aber durchaus fahrbereit, 50 Euro, COLNAGO. Das Foto zeigte, was es praktisch nicht mehr gibt: ein Original COLNAGO SUPER von 1974. Geschätzter Sammlerwert: über 1000 Euro. 356 Interessenten hatten bereits geklickt. Normalerweise hätte es längst verkauft sein müssen – war aber immer noch im Angebot. Ich neugierig, rufe an. Am Apparat ein älterer Herr. Ich: Ist das Rad schon verkauft? – Nein, Sie sind der Erste, der mich erreicht. Ich hatte meine Firmennummer angegeben, war übers Wochenende zu Hause und bin jetzt erst gerade wieder im Büro erreichbar. – Kann ich das Rad kaufen? – Selbstverständlich! Warum denn nicht? – Weil Sie es mit 50 Euro viel zu billig angeboten haben! – Gut, dann machen wir 70Euro! – Das ist immer noch viel zu billig (und ich klärte ihn auf)! – Er (schon halb entrüstet): Dann machen wir halt 100 Euro. Jetzt ist aber gut! – Wo kann ich es abholen? –Bei mir in Aachen. Drei Tage später fuhr ich nach Aachen …

Und war das Rad noch da?

Es war noch da und es war wirklich ein COLNAGO SUPER von 1974. Er erzählte mir, dass er nicht wusste, wie er seine Anzeige aus eBay rauslöscht. Deshalb hätte er bis heute fast 1000 Klicks und viele Telefonate mit anderen Interessenten geführt. Er: Wissen Sie eigentlich, was mir einige Leute für das Rad geboten haben? – Ich: Wenn Sie mehr Geld haben müssen, dann reden wir darüber; wir einigen uns schon. –Aber davon wollte er partout nichts wissen. – Sie waren der Einzige, der mir gesagt hat, wie wertvoll das Rad ist. Deshalb bleiben wir jetzt auch bei den 100 Euro.

Wie hat Ihre Rennrad-Leidenschaft überhaupt angefangen? Was war Ihr Schlüssel-Erlebnis?

Es ist fast 30 Jahre her, da habe ich einen Ladenhüter gekauft: eine Rennmaschine von 1988. Sie war noch aus Stahl, aber schon modern, mit hohen Felgen. Etwa zehn Jahre später habe ich mich begeistert mit einem Mann, der bei Kalkhoff war, über dieses Fahrrad unterhalten. Der sagte dann, er hätte noch was Klassischeres für mich – und hat mir ein altes Kalkhoff-Rennrad geschenkt, ein Mittelklasse-Rennrad.

Ein Hingucker?

Das Rad sah im wahrsten Sinn des Wortes beschissen aus – war nämlich voller Hühnerkacke. Also habe ich das Ding erst mal sauber gemacht, alles komplett zerlegt und die Teile gründlich gereinigt, mir die Technik angeschaut und gedacht: Mann, ist das klasse gemacht – filigran, im Detail sehr konsequent, nix ist überflüssig, alles auf dem Punkt! Und mit so einem Ding kommst du den Berg runter mit 100 Sachen. Das fand ich sehr faszinierend und dachte mir: Das muss doch noch filigraner gehen – und ging fortan auf die Suche.

Und ab diesem Zeitpunkt haben Sie gesammelt.

Auf das Sammeln kam es mir nie an. Sammeln ist nicht meine Leidenschaft. Meine Leidenschaft sind schöne Dinge wie diese Rennmaschinen, die handwerklich perfekt sind bis ins kleinste Detail. Und dabei so ästhetisch. Das ist einfach eine Augenweide.

Gibt es eigentlich so etwas wie die Blaue Mauritius unter den Rennmaschinen?

Gibt es. Man kennt natürlich viele Design-Ikonen, beispielsweise eine Karbonmaschine wie das Lotus 108 für die Bahn. Aber das Cinelli Laser aus den 1980er Jahren ist schon etwas ganz Besonderes und eine Art Blaue Mauritius.

Eine Ikone, die Sie auch in Ihrem Rennstall haben?

Ich hatte das Glück, einen Sammler mit einer bedeutenden Sammlung kennenzulernen, mit dem ich seitdem gut befreundet bin. Der hatte drei Cinelli Laser. Er hatte mir schon vor Jahren Hoffnungen gemacht, aber erst vor einem halben Jahr konnte er sich dazu durchringen, sich von einer Maschine zu trennen und mir zu überlassen – ein eisblaues Exemplar.

Und wie fährt es sich damit?

Das Rad war fabrikneu und wurde noch keinen einzigen Meter bewegt. Und dabei soll es auch bleiben.

Aber in der Regel fahren Sie doch Ihre Räder?

In der Regel schon. Aber es gibt eben einige „Stehräder“, die nur zum Anschauen da sind, beispielsweise diejenigen, die noch fabrikneu sind oder so alt, dass sie Schaden nehmen würden.

Wie alt sind Ihre Maschinen?

Das älteste, ein Bianchi-Rennrad mit einer damals revolutionären 3-Gang-Rennschaltung, stammt von 1932. Das jüngste wurde 2001 gebaut.

Sind neuere Modelle nicht so interessant?

Doch schon. Es gibt auch nagelneue Rennmaschinen, die in kleinsten Stückzahlen in Handarbeit gebaut werden und die man heute schon als Rennradklassiker bezeichnen kann.

Sammeln Sie denn heute andere Maschinen als früher?

Wenn man sich mit alten Sachen zum ersten Mal beschäftigt, dann sind die zwar alt, aber für einen selbst, da man sie ja noch nicht kennt, immer neu. Und es bleibt spannend, weil in diesem Sinne immer etwas Neues hinzukommt. Und wenn man ein Rad restauriert hat und es steht da vor einem, dann ist das fantastisch. Im Laufe der Jahre wird die Luft allerdings dünner: Es wird schwieriger, etwas Außergewöhnliches zu finden. Vielleicht interessiere ich mich deshalb seit vier, fünf Jahren mehr und mehr für sogenannte Short-Wheel-Base-Maschinen. Das sind Rennräder mit extrem kurzem Radstand. Bedingt durch ihre spezielle Rahmenkonstruktion sind die beim Fahren unfassbar agil, will sagen: wendig. Das ist ein extremer Unterschied zu „normalen“ Rennmaschinen.

Wissen Sie denn, wer Ihre Räder gefahren hat?

Nicht immer. Aber ich habe eine Maschine, die Eddy Merckx gebaut hat. Genauer gesagt: Die zentralen Bestandteile Rahmen, Steuersatz und Tretlager stammen von der Maschine. Vorder- und Hinterrad, Lenker, Pedale und Sattel werden ja bei Rennmaschinen im Laufe der Zeit immer wieder ausgetauscht. Mit dieser Zeitrennmaschine hat Robert Lechner bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 im 1000-m-Zeitfahren auf der Bahn Bronze gewonnen. Aber wie gesagt: Mir geht es nicht darum, wer was gefahren hat. Bei mir steht die Maschine im Mittelpunkt – Handwerkskunst, Design und Ästhetik.

Wer so einer Leidenschaft frönen will, braucht eine tolerante Frau an seiner Seite.

Ich hab was viel Besseres: Meine Frau teilt meine Design-Leidenschaft. Sie hat überhaupt nichts dagegen, dass immer zwei, drei Maschinen im Wohnzimmer stehen.

Was halten Sie von einem Fahrrad-Museum in Cloppenburg?

Sehr viel. Das ist ja eine Idee, für die ich auch schon seit Langem werbe. Ob man jetzt an die Rad-Sammlung des Museumsdorfes oder meine Sammlung denkt – das Material dafür wäre ja da. Jetzt bräuchte man nur noch eine attraktive Location und ein überzeugendes Konzept.

Vielen Dank für das Gespräch.