Das Museumsdorf Cloppenburg hat seit acht Jahren die bedeutende Gabriele-und-Manfred-Kalkhoff-Sammlung in ihrem Bestand – etwa 200 Fahrräder, die beispielhaft fast 150 Jahre Fahrradgeschichte repräsentieren. Diese Sammlung ist der Grundstock für eine Ausstellung, die ein zentrales Highlight des Jubiläums „100 Jahre Kalkhoff“ sein wird. Museumsdirektorin Dr. Julia Schulte to Bühne weiß auch schon, wie sie aussehen wird – und mehr:

Der 15. Juni, der Tag des offiziellen Starts von „100 Jahre Kalkhoff“, rückt näher. Wie ist der Stand der Dinge? Was wird an diesem Eröffnungstag passieren?

Dr. Schulte to Bühne: Eine ganze Menge. Er beginnt im Museumsdorf mit einer Ausstellungseröffnung und wird dann mit einer Fahrradtour durch den Ort fortgesetzt, und zwar auf Heinrich Kalkhoffs Spuren – sein Elternhaus, sein späteres Wohnhaus, seine Werkstätten und anderes mehr. Die Tour ist etwa sieben Kilometer lang und endet schließlich in der Innenstadt.

Weshalb in der Innenstadt?

Wir wollten dieses Jubiläum unbedingt auch in die Stadt tragen. Denn es geht ja schließlich alle Bürgerinnen und Bürger Cloppenburgs etwas an.

Und was erwartet die Cloppenburger?

Ein richtiges Fahrradfestival. Es wird Musik geben, es wird zu essen und zu trinken geben, mehrere Stationen zum Thema Fahrrad, ein Coffeebike wird Kaffee ausschenken. Derby Cycle lädt mit einem riesigen Kalkhoff-Truck zum E-Bike-Fahren ein, der ADFC informiert über Sicherheit, Wolfgang Hagemann präsentiert Schätze seiner Rennmaschinen-Sammlung. Und unter den Teilnehmenden von „Stadtradeln“ werden Preise verlost – wobei der Hauptpreis ein Retro-Kalkhoff-Fahrrad sein wird. Cloppenburgs Händler machen auch mit: Sie dekorieren ihre Schaufenster mit historischen Rädern aus der Sammlung Kalkhoff des Museums. Insgesamt werden da an die 30 Stück zu bewundern sein.

Sie haben es bereits erwähnt: Im Museumsdorf wird am 15. Juni auch eine Ausstellung eröffnet, bei der es ebenfalls um „100 Jahre Kalkhoff“ geht. Was gibt es dort zu sehen?

Unsere Idee war, für jedes Jahrzehnt ein Kalkhoff-Fahrrad, Werbematerial und das jeweilige Logo zu präsentieren, als eine Art roter Faden durch die Ausstellung. Das ist – bis auf wenige Ausnahmen – auch gelungen. Wir haben zum Beispiel ein Kinderrad aus den 1960er Jahren, das vielen Besucherinnen und Besuchern ein „Das kenn ich doch!“ entlocken dürfte. Daneben zeigen wir mit entsprechenden Exponaten, wie sich das Fahrrad im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat. Zu sehen sind teils altertümlich anzusehende Klingeln, Bremssysteme, Sättel, Wimpel, Beleuchtungen, Reifen und vieles andere mehr.

Also eine Fahrradshow?

Nicht nur. Ein Fahrrad ist ja für sich genommen nur ein Fahrrad, ein technisches Objekt. Spannend wird es erst, wenn ich eine Geschichte dazu erzählen kann. Das kann eine persönliche Geschichte sein, also ein biografischer Ansatz. Das kann aber auch etwas Kulturhistorisches oder Politisch-Soziales sein. Deshalb wollen wir die Räder in ihren jeweiligen historischen Kontext stellen.

Und wie?

Beispielsweise, indem wir zeigen, welche Bedeutung das Fahrrad für die Mobilität hatte. Oder welchen konkreten Bedarf Fahrräder abdeckten. Oder welche wirtschaftliche Bedeutung die neu entstandene Industrie hatte. Oder wer sich so ein Rad überhaupt leisten konnte. Also wie teuer war ein Rad damals, was kosteten Butter und Brot – um das Ganze einordnen zu können. Ein weiterer wichtiger Ausstellungspunkt ist natürlich auch Heinrich Kalkhoff. Dessen Vita wollen wir so gut es geht beleuchten.

Als ehemaliger Landbriefträger, der erst Ersatzteile verkauft, dann Fahrradrahmen und ganze Fahrräder herstellt, war Heinrich Kalkhoff sozusagen ein Quereinsteiger. Wie kam’s dazu?

Leider gibt es über Heinrich Kalkhoff nur sehr, sehr wenig biografisches Material. Wir sind zwar noch am Recherchieren. Aber ich befürchte, da kommt nicht so viel Neues. Er war kein Selbstdarsteller, der viele biografische Spuren hinterlassen hat. Deshalb bin ich an diesem Punkt auf Vermutungen angewiesen. Eins ist allerdings sicher: Nach dem Ersten Weltkrieg ging die Massenproduktion von Fahrrädern in Deutschland erst so richtig los.

„Unsere Idee war, für jedes Jahrzehnt ein Kalkhoff-Fahrrad, Werbematerial und das jeweilige Logo zu präsentieren, als eine Art roter Faden durch die Ausstellung.”

Die bislang die englische Fahrradindustrie abgedeckt hatte.

Genau. Zudem kam Heinrich Kalkhoff als Landbriefträger natürlich ziemlich viel herum – zu Fuß oder mit dem Rad. Und damals konnte man sich als Postbote noch ausgiebig mit den Leuten unterhalten. Er wusste also genau, wie sie lebten, wo’s fehlte, was sie gerne hätten, wovon sie träumten.

Der Postbote als Marktforscher?

So ungefähr. Er konnte wahrscheinlich den Mobilitätsbedarf der Leute sehr gut einschätzen und wusste, wie es um die Nachfrage von Fahrrädern stand. Hier in der Gegend hat man eh ein gutes Gefühl dafür, was funktionieren kann, wo ein Markt ist. Und zu guter Letzt: Heinrich Kalkhoff entpuppte sich im Laufe der Jahre als einfallsreicher Geschäftsmann, der sein Unternehmen zum Hidden Champion machte.

War denn Cloppenburg zu Kalkhoffs Anfangszeiten „ein weißer Fleck auf der Landkarte“, was die Vermarktung von Fahrrädern anging?

Ganz und gar nicht. Es gab in Cloppenburg sogar schon vor Kalkhoff Geschäfte, die Fahrräder oder Fahrrad-Ersatzteile verkauften. Zufällig habe ich hier auf meinem Schreibtisch eine Anzeige liegen. Darin bewirbt ein Cloppenburger Händler Herkules-Fahrräder – im Jahr 1897, wohlgemerkt!

Aber die Händler konnten den 16-jährigen Quereinsteiger doch nicht ernst nehmen.

Anfangs haben sie ihn sicherlich belächelt, als er zwei Fahrradreifen verkaufte, die er bei einer Großhandelsfirma äußerst günstig erworben hatte. Als sein Geschäft wuchs und wuchs, waren sie sicherlich „not so amused“.
Cloppenburg war 1919 eine Landgemeinde mit ziemlich viel Land drumrum. Sicher kein idealer Absatzmarkt für Fahrräder zu der Zeit.
Zwischen Land und Stadt war natürlich ein riesiger Unterschied. Auf dem Land waren die Wege und Straßen mehr für Pferde- und Ochsenfuhrwerke oder Kutschen jeder Art ausgelegt – und entsprechend schwer mit dem Fahrrad befahrbar. Anders in der Stadt. Dort wurden Fahrräder schneller heimisch. Hinzu kamen auf dem Land Irritationen zwischen Radfahrern und Tieren. Pferde zum Beispiel waren es nicht gewohnt, von Fahrrädern überholt zu werden, und erschreckten sich. Und wenn Räder in der Sonne blinkten und blitzten, das konnten sie auch nicht haben. Entsprechend waren die Kutscher genervt, wenn ihre Pferde scheuten, stiegen, buckelten oder davonstürmten. Das sorgte für Stress – wahrscheinlich ähnlich wie heutzutage E-Tretroller, die sich mit Fußgängern die Gehwege teilen sollen.

Wie muss man sich die ersten Kalkhoff-Fahrräder vorstellen?

Das waren natürlich keine stylischen Statussymbole oder trendige Sport- und Freizeitbikes wie heute. Kalkhoff hat produziert, was in dieser Zeit nachgefragt wurde: solide klassische Nutzfahrräder für den täglichen Gebrauch. Verlässliche Fahrräder für den breiten Markt. Räder, mit denen man auch Lasten transportieren oder mit der Milchkanne auf die Weide fahren konnte, um Kühe zu melken und Milch zu transportieren. Die Räder wurden dann so lange gefahren, bis sie aufgebraucht waren. Deshalb sind alte Kalkhoff-Räder auch kaum zu finden.

Was wird das Museumdorf neben der Ausstellung noch anbieten?

Natürlich Führungen durch die Ausstellung und unsere Fahrradtour auf Kalkhoffs Spuren.

Was halten Sie von der Idee, ein Fahrradmuseum in Cloppenburg zu installieren?

Ich bin sehr an der Idee interessiert – wenn es keine reine Fahrradshow wird. Das Faszinierende ist ja, dass man an die Geschichte des Fahrrades so vieles andocken kann. Man kann beispielsweise über die Jahrzehnte verfolgen, wie sich der Mobilitätsbedarf einer Gesellschaft entwickelt. Oder wie sich das Straßen- und Wegenetz verändert. Oder wie es vom „Nutztier“ zum Prestigeobjekt wurde und viele andere Aspekte. In solch einem Museum könnte man ganz viel davon unterbringen.

Und ist Cloppenburg dafür der richtige Ort?

Auf jeden Fall. Schließlich gibt es nicht viele Orte in Deutschland, wo über so lange Zeit Räder hergestellt wurden und werden.

Vielen Dank für das Gespräch.